Wie wollen wir in Zukunft leben, arbeiten, uns fortbewegen? Wie können Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit Hand in Hand gehen? Wie kann grüne Wirtschaftsentwicklung aussehen und die Lebensqualität steigern? Wenn solche Fragen derzeit in Europa aufgeworfen werden, geschieht das meist am Beispiel von Großstädten wie Berlin oder London, München oder Paris. Trotz Mietenexplosion und Verkehrskollaps sind diese prominenten Ballungszentren nach wie vor erste Anlaufstelle für eine weltweit wachsende Bevölkerung. Doch auch außerhalb der Metropolregionen gilt es, knapper werdende Ressourcen effizient und gerecht zu verteilen. Auch hier müssen Siedlungswachstum und Nachhaltigkeit ein neues Gleichgewicht finden.
Besonders dringlich stellt sich die Frage in Regionen mit zahlreichen kleinen und mittleren Zentren wie Baden-Württemberg, dem Schweizer Mittelland oder dem eng geknüpften Städtenetz Belgiens. In ganz Europa haben viele Menschen ihre Heimat außerhalb der traditionellen Stadtzentren. Sie leben in diesen regionalen Flickenteppichen aus unterschiedlichsten Nutzungen, in vorstädtischen Gebieten, entlang von Autobahnen und Bahnstrecken oder im Umland der Metropolen. Neue Wohngebiete sind hier ebenso zu finden wie Reste alter Dörfer, Landwirtschaft ebenso wie Niederlassungen einflussreicher Unternehmen. Ländlich ist dieser Raum nicht mehr – städtisch noch nicht. Er ist eine Art verstädterte Landschaft: urbanes Land.
Wie Wohnen, Arbeiten und Mobilität in solchen Gegenden aussieht und in Zukunft aussehen könnte, welche besonderen Herausforderungen und Lösungsansätze es gibt und wie das Leben dort nachhaltig geplant werden kann, damit beschäftigt sich eine internationale Konferenz des InnoSÜD-Teilprojektes „Urbanes Land“ an der Hochschule Biberach am 26. September 2019 in Ulm.
Austausch und Impulse aus unterschiedlichen Perspektiven
Ganz im Sinne des InnoSÜD-Transfergedankens will die Konferenz nicht nur Wissen aus der Forschung vermitteln, sondern auch Impulse der Besucher*innen mit aufnehmen und zum Austausch einladen. Um eine Vielzahl an Perspektiven einzubeziehen, spricht die Konferenz gezielt nicht nur einen engen Kreis aus Stadtplaner*innen und Architekt*innen an: Zu Wort kommen werden auch kommunale Entscheider*innen, Projektvertreter*innen, Stadt-Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen aus Bereichen wie Energie, Klima oder auch Sozialwissenschaft.
Diese Mischung ist bewusst gewählt, betont Konferenzleiterin Prof. Dipl.-Ing. Ute Margarete Meyer vom Forschungs- und Transferschwerpunkt urbanes.land der Hochschule Biberach. „Um wirklich Veränderung zu erreichen, müssen Entwicklungen von vielen Interessensgruppen getragen werden. Es ist eine Zukunftsaufgabe der Hochschulen, einen neutralen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem Wissen geteilt und kontroverse Interessen fachlich begleitet verhandelt werden können.“
Die Konferenz hebt den Blick über rein räumliche Bezüge hinaus: Welche Finanzierungsoptionen gibt es, welche neuen Kooperationsformen helfen bei der Umsetzung und wie werden zukünftig mehr und andere Akteure eingebunden? Diese Fragen sollen ausreichend Raum erhalten, so die Konferenzleiterin. „Hier sehen wir großes Diskussions- und Vernetzungspotential. Häufig fehlt es nicht an Einsichten und Ideen, sondern daran, geeignete Hebel zu finden, um sie in Taten umzusetzen.“
Damit sich die verschiedenen Perspektiven der Teilnehmer*innen berühren und bereichern können, schafft das Konferenz-Team Gelegenheiten zum Austausch und Netzwerken. „Die einzelnen Panels beginnen mit kurzen Impulsen in Form von Vorträgen und Debatten; danach ist ausreichend Zeit zur Diskussion“, erklärt Prof. Dipl.-Ing. Meyer.
Drei Panels: Flächennutzung, Mobilität, Die Rolle des Experiments
In drei Panel-Sitzungen nähert sich die Konferenz verschiedenen Schwerpunktthemen. Unter dem Stichwort „compact & liveable“ geht es darum, wie die räumliche Entwicklung des „urbanen Landes“ dicht, lebenswert und nachhaltig erfolgen kann. Zersiedelung muss vermieden und Fläche gespart werden – auch der Boden ist eine wichtige Ressource. „Außerhalb der Großstädte gibt es zwar vermeintlich viel Fläche, diese wird aber von vielen Gruppen beansprucht: Zum Wohnen, für die Industrie, die Landwirtschaft, die Energiegewinnung oder den Klimaschutz,“ erklärt Martin Spalek, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut und Mitorganisator der Konferenz. „Im urbanen Land sind die Grenzen zwischen Stadt und Land fließend. Wir suchen nach Wegen, wie sich diese Gegensätze wieder besser miteinander vereinbaren lassen. Ein Lösungsansatz kann hier die Mehrfachnutzung von Flächen sein – indem Häuser, Straßen und Industrieflächen ökologische Funktionen auch mit übernehmen.“
Das Thema Infrastruktur & Vernetzung steht im Mittelpunkt des zweiten Panels „connected & balanced“. „In ländlichen Gebieten und im Umland größerer Städte pendeln viele Leute täglich zum Teil große Strecken zur Arbeit, Schule oder zum Einkaufen – meistens mit dem Auto,“ so Martin Spalek. „Der Pro-Kopf-Anteil an Autos in der Region Oberschwaben ist um ein Drittel höher als in Großstädten. Alternativen lassen sich aber finden, zum Beispiel durch die Umgestaltung des Nahverkehrs, Digitalisierung, neue Wohnangebote oder einen Ausbau der Anschlussmobilität, zum Beispiel mit E-Bikes, Fahrrädern oder Carsharing-Formaten.“
Im dritten Panel „coordinated & experimental“ wird diskutiert, wie Lösungsideen ihren Weg in die kommunale Praxis finden können. Wie können städtische Planer*innen, kommunale Entscheider*innen und Initiativen aus der Zivilgesellschaft sich gegenseitig bereichern – und wie können die Rahmenbedingungen dann entsprechend angepasst werden? „Hier gibt es in einigen Metropolregionen Ansätze, die sich auch auf das urbane Land übertragen lassen. Wie genau, das soll im Rahmen der Diskussion erörtert werden,“ fasst Martin Spalek zusammen.
„Auf den Panels werden wir immer wieder darauf stoßen, dass in Europa viel Wissen bereit steht, um Urbanisierungsprozesse auch dort zu gestalten, wo die traditionelle Vorstellung von der „kompakten europäischen Stadt“ nicht greift. Dieses Wissen zu teilen und die Akteure international zu vernetzen sind wichtige Ziele der Konferenz. Mindestens so wichtig ist jedoch der Impuls, den sie für die Region liefern kann: zwischen Ulm und Bodensee liegt „urbanes Land“ mit bester Ausgangslage für nachhaltige Entwicklungen,“ ergänzt Prof. Dipl.-Ing. Meyer.
Internationale Referent*innen zu Gast im Kulturdenkmal
Mehr als 15 Referent*innen aus Deutschland und der Welt bringen ihre Perspektiven in die Sessions ein, darunter:
- Georgeen Theodore, Professorin für Infrastrukturplanung und Gründerin von Interboro New York
- Tom Holbrook, Gründer des 5th Studio London und Professor für Urbanistik
- Andreas Hofer, Intendant der IBA Stadtregion Stuttgart 2027
- Franziska Schreiber, Projektleiterin Weiterentwicklung nationale Stadtentwicklungspolitik bei der Denkfabrik Adelphi
Als Veranstaltungsort liefert die HfG Ulm einen starken Hintergrund. Die 1953 von Inge Aicher-Scholl, Otl Aicher und Max Bill gegründete Hochschule war bis 1968 eine der bedeutendsten Design Einrichtungen weltweit, getragen von dem Anspruch künstlerisch-gestalterische Arbeit auch in den Dienst gesellschaftlicher Emanzipation zu stellen. Heute beherbergt sie zahlreiche Gestaltungsbüros und das HfG Archiv. Vom heutigen Kulturdenkmal auf dem Ulmer Kuhberg haben die Teilnehmer*innen einen eindrucksvollen Blick über das urbane Land Oberschwabens.
Der Termin im Überblick:
- Donnerstag, 26.9.2019
- 10:00 bis ca. 19:00 Uhr, anschließend Networking
- Hochschule für Gestaltung Ulm, Am Hochsträß 10, 89081 Ulm
Hintergrund: urbanes.land
urbanes.land ist ein Forschungs- und Transferzweig der Hochschule Biberach, spezialisiert auf evidenzbasierte Analyse und Strategieberatung von Planung und Politik auf kommunaler und regionaler Ebene. Im Zentrum stehen urbanisierte Gebiete mittlerer Dichte.
Forschung findet auf verschiedenen Maßstäben und mit unterschiedlichen Werkzeugen statt. Klassische geografische Methoden, Kartografie und Stakeholder-Analyse werden ergänzt durch netzbasierte Archive, Storytelling und Social media-Experimente. Das Team des InnoSÜD-Teilprojektes erleichtert, initiiert und stützt Planungsprozesse und stattet diese mit neuen Argumenten und Werkzeugen aus.
Derzeit laufen Projekte im Südwesten Deutschlands, in den Benelux-Staaten und im Baltikum.